Urne in der Stadionkurve

  • VEREINSTREUE


    Urne in der Stadionkurve


    Von Mariano Dayan


    Daniel Ocañas hatte einen Traum. Der Anhänger des mexikanischen Clubs Monterrey wollte das Team zu einem Auswärtsspiel in Argentinien begleiten. Doch kurz vor der Partie starb er bei einem Verkehrsunfall. Andere Fans sorgten dafür, dass Ocañas doch dabei sein konnte - und weiterhin im Stadion ist.


    Es gehört zu den Ritualen der Fans, dass sie schwören, ihrem Verein bis in den Tod zu folgen. Für viele ist das nur dahin gesagt. Für Daniel Ocañas war es bitterer Ernst. Daniel Ocañas war ein 23-jähriger Fan von Tigres de Monterrey, ein Mitglied der größten Fanvereinigung, der Barra "Libres y Lokos". Und er hatte noch viel vor. Zum Beispiel diese Reise nach Argentinien, die Heimat Diego Maradonas, zum Spiel der ersten Gruppenphase der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League, gegen Banfield.


    Er hatte im Frühjahr bereits 800 Dollar bezahlt, für ein Flugticket nach Buenos Aires, und war auf dem Weg nach Monterrey, die Tickets für sich und seine Freunde von "Libres y Lokos" abzuholen. In Monterrey überschlug sich der hintere Teil des Lasters und begrub Daniel Ocañas unter sich. "Er starb wenige Tage vor dem Spiel", erzählt der Sprecher von "Libres y Lokos", Samuel Reyes, "ich fuhr in einem anderen Wagen." Freuen kann er sich darüber nicht.


    Als die Barra von Ocañas' Tod erfährt, herrscht unter den Anhängern tiefe Trauer. Sie weinen um ihn und um seinen Freund Antonio García, der ebenfalls bei dem Unfall getötet wurde. Und sehr bald stellt sich die Frage, was nun zu tun ist. Nach Argentinien fahren, ganz so, als sei nichts passiert? Oder daheim bleiben, hätte Daniel das gewollt? Und irgendwann steht plötzlich eine Idee im Raum, die allen Fans von Minute zu Minute besser gefällt.


    "Es ging alles sehr schnell. Wir mussten das Ganze rasch verdauen und dann nach Argentinien zu reisen, um Tigres zu sehen. Da Daniels Leidenschaften der Fußball und fremde Kulturen waren, haben wir Kontakt mit seiner Familie aufgenommen, um ihnen diesen Vorschlag zu unterbreiten", sagt Reyes. Die Idee ist, Daniel Ocañas trotz allem mitzunehmen, auf die Reise nach Argentinien, nach Banfield. Seine Asche, eskortiert von der Barra, verpackt in einer Schachtel in den Vereinsfarben.


    "Er war ein sehr fröhlicher Mensch, er fuhr überall hin, um Tigres zu sehen. Wir wollten uns die Freude machen, bei einer so wichtigen Reise mit ihm zusammen zu sein", so Reyes. Und auch wenn die Eltern zunächst zögern, schließlich geben sie doch die Erlaubnis und die letzte Auswärtsfahrt des Daniel Ocañas beginnt. Dabei haben die Freunde gar keine Dokumente, die es ihnen erlauben, die Asche von Mexiko nach Argentinien zu bringen. Wenn sie erwischt werden am Flughafen, am Stadion, werden sie Ärger bekommen, das wissen sie.


    Doch weil die Jungs von "Libres y Lokos" die Asche ihres Freundes einfach "direkt in den Koffer" stecken, gibt es weder bei der Zwischenlandung in Chile noch bei der Ankunft in Buenos Aires Probleme. Die Fans stellen Daniels Asche in den Hotelsafe und am Abend vor dem Spiel tragen sie die sterblichen Überreste ins Stadion. Auf dem Rasen stehen Torhüter Gustavo Campagnuolo und Sixto Peralta.


    Natürlich haben die Spieler auch von den Todesfällen gehört, sie sammeln bereits mit den anderen Teammitgliedern Geld für die Familie von Antonio García, dem verstorbenen Fan, der in Mexiko geblieben war. Als sie von der Barra gebeten werden, vor dem Spiel als eine Art Hommage mit Daniel für ein Foto zu posieren, sind sie fassungslos. Campagnulo, der Keeper, fasst sich an den Kopf. "Es ist unglaublich, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. So etwas für einen Freund zu tun, ist nicht selbstverständlich", sagt er.


    So gibt es nun ein Foto, das den Keeper, Abwehrspieler Omar Briseño und Daniel zeigt, eine Woche nach seinem Tod. Und ein weiteres Foto, direkt vor dem Spielbeginn gegen Banfield. Die ganze Mannschaft von Tigres de Monterrey steht auf dem Rasen und inmitten der von ihm verehrten Spieler ist Daniel Ocañas bei seiner Mannschaft. Danach wird die Schachtel mit Daniels Asche in den Gästeblock getragen. "Wir waren davon überzeugt, dass er uns begleitet. Er hätte das für jeden anderen der Barra getan", erklärt Fausto Valdez, ein Freund von Daniel.


    Und so feiern die Gäste aus Monterrey an diesem Tag nicht nur die Mannschaft, die bei Banfield gewinnt, sondern auch ihren Freund. Beseelt und getröstet fahren die Mexikaner wieder nach Hause. Doch auf der Rückfahrt nach Monterrey werden die Tigres-Anhänger von der Polizei angehalten, die inzwischen von der ungewöhnlichen Luftfracht erfahren hat. Die Todesurkunde soll vorgezeigt werden, aber die gibt es natürlich nicht. Und weil die Polizei schließlich auch nicht so genau weiß, was sie nun mit dem nicht deklarierten Daniel Ocañas tun soll, kann die Barra ohne Probleme wieder einreisen.


    Daheim hat man längst von der letzten Reise des jungen Fans erfahren, die Zeitungen berichten, das Fernsehen und die Rundfunksender. "Daniel fehlte, als er noch lebte, bei keinem einzigen Spiel. Und genauso sollte er in der Erinnerung aller bleiben", sagt Samuel Reyes jedem, der es hören will. Heute, Monate nach dem Spiel, ist Daniel Ocañas noch immer Zuschauer im heimischen "Estádio Universitario".


    Seinen Traum, dass seine Asche im Stadion verteilt werden möge, hat ihm die Familie noch nicht erfüllen können, die Stadiondirektion stellt sich quer. Doch zu jedem Spiel leiht die Familie der Barra ein Päckchen mit ein wenig von Daniels Asche aus, das sich dann auf den Weg ins Stadion macht. Dort ist sie in den Händen irgendeines Freundes, inmitten der Gesänge. Daniel Ocañas ist tot. Und ist doch bei jedem Spiel von Tigres dabei.


    Spiegel Online

  • Spätestens, wenn die Gesetze in Deutschland hinsichtlich der Beisetzung von Verstorbenen geändert worden sind, werden die Vereine diese Einnahmequelle in irgendeiner Form auch nutzen. Da bin ich mir ziemlich sicher.